michael mayr - movements

DIE FELDENKRAIS METHODE
Ein Vortrag von Myriam Pfeffer November 1988
Der folgende Vortrag wurde von Myriam anlässlich des Kongresses für Somatotherapie in Paris gehalten. Die Zeit dafür war auf 15 Minuten beschränkt. Zwei Stunden praktischer Arbeit und laufender Erklärungen waren dieser kurzen Zusammenfassung vorangegangen, d.h. die Anwesenden hatten auf ihren Stühlen sitzend an einer ATM Stunde teilgenommen, Myriam bei der FI Arbeit beobachtet und Videos gesehen, die Moshé Feldenkrais selbst in Aktion zeigen. In ihren abschließenden Worten ging es Myriam darum klarzustellen, dass es sich bei der Feldenkrais Methode nicht um eine Therapie handelt, sondern um die Ermöglichung von Lernen.
Bevor ich zum praktischen Aspekt von Moshé Feldenkrais’ Lehre komme, möchte ich ein paar allgemeine und methodologische Bemerkungen machen, die mir absolut notwendig erscheinen.
Lernen, Erziehung und Selbsterziehung haben nichts mit sozialer Konditionierung oder Dressur zu tun. Sie beziehen sich vielmehr auf eine biologisch ausserordentlich bedeutsame Dimension, die im Prozess der Menschwerdung ausschlaggebend ist:
Was uns angeboren ist, muss sich offenbaren und integriert werden. Das geschieht im Verlauf äusserst komplexer Reifungsprozesse, in denen sich das Nervensystem entfaltet und damit aktualisiert. Jedes Entwicklungsdefizit, jede Form von Unreife in Bezug auf das jeweilige Lebensalter, kommt einem Mangel an Gesundheit im Sinne einer Funktionsbeeinträchtigung gleich. Das bedeutet Energieverlust und Gefährdung - sowohl für den Einzelnen wie für die Gesellschaft.
Es gibt zwei Arten des Lernens. Beide sind notwendig und ergänzen einander. Allzu oft aber beschränken wir uns auf eine von ihnen, nämlich das akademische Lernen. Die andere, das organische Lernen, dagegen ist wesentlich für die Entfaltung des menschlichen Individuums, für sein kontinuierliches inneres Wachstum (growth process), ohne welches unser Leben nicht denkbar ist. Feldenkrais nannte das „der eigenen Nase“ oder „Richtung“ folgen. Lassen Sie mich das näher erläutern: In seiner Infantilität und Gehetztheit meint der heutige Mensch, er könne Gesundheit, eine ansprechende körperliche Erscheinung, ja selbst Glück durch Drogen oder Drillmethoden wie z.B. Body-Building erlangen, statt durch Lernen, bei dem es um zunehmende Bewusstheit mit dem Ziel der Selbsterkenntnis geht.
Feldenkrais war davon überzeugt, dass Bewegung der einfachste und für jeden zugänglichste Weg zur bewussteren Selbstwahrnehmung sei. Übrigens nennt sich ein Aspekt seiner Lehre „Bewusstheit durch Bewegung“. Dabei handelt es sich weder um Gymnastik, noch um Aerobic, Strecken und Dehnen oder sonst eine Form geistloser körperlicher Betätigung. Bewegung dient hier vielmehr der Perfektibilität des menschlichen Gehirns. In der Bewegung manifestiert sich die Funktion des Nervensystems. Gleichzeitig gibt Bewegung dieser Funktion in einem anregenden Dialog Richtung und Ordnung. Sie reflektiert und fördert unsere Kraft, Gewandtheit, Intelligenz und unsere Wandlungsfähigkeit. Motorische Tätigkeit führt in diesem Rahmen zur Meisterung neuer Möglichkeiten, zur Verbesserung unserer Anpassungsfähigkeit und damit zu Fortschritten in der Entwicklung.
Feldenkrais war ein ausgesprochener Wissenschaftler. Er war Doktor der Physik und arbeitete eine zeitlang im Forschungsteam von Joliot-Curie. Als Inhaber des Schwarzen Gürtels sorgte er als erster für die Verbreitung der Kunst des Judo in
page1image22480384
pfeffer_feldenkrais methode.doc
Frankreich. Bei der Umsetzung seiner Methode in die Praxis verband er seine wissenschaftlichen Kenntnisse, z.B. aus der Elektronik (Darstellung des Bio-feedback im Sinne der Kybernetik) mit den östlichen Kampfkünsten. Ausserdem berief er sich auf Philosophen, Psychologen, Neurophysiologen, Anthropologen u.s.w. wie Schrödinger, Darwin, Lorenz, Milton, Erickson, J.Z. Young, Magnies und andere. Sie alle konnten unmöglich ahnen, wie hilfreich ihr Fachwissen sein kann, wenn man es in die nichtverbale Sprache der „Funktionalen Integration“ übersetzt. Mit diesem Begriff wird der zweite Aspekt der Feldenkrais Methode bezeichnet, bei dem die Hände des Praktikanten einen Dialog mit dem Lernenden führen.
Feldenkrais liess nichts gelten, was ihm irgendwie mit fraglichen Vorstellungen, einem konfusen Mystizismus oder bestimmten zweifelhaften Energietheorien befrachtet schien. Er stiess jedoch vermittels rein westlicher Techniken, wie sie an der vordersten Front wissenschaftlicher Forschung angewandt werden, auf zutiefst urwestliche Wissengehalte, die er wiederum kraft seines wissenschaftlichen Geistes assimilierte und seiner Methode einverleibte.
Ich möchte Ihnen ein paar Beispiele nennen: Feldenkrais stellte sich die Frage, was eine gute Bewegung ausmacht. Man könnte sagen, sie müsse leicht, harmonisch, geschmeidig sein. Doch ergibt sich daraus kein praktisch anwendbares Kriterium, keine klare Bezugsgrösse. Kennzeichen jeder guten Bewegung in der Physik ist ihre Umkehrbarkeit, verbunden mit einem Minimum an Kraftaufwand. Feldenkrais stellte im Rahmen seiner Untersuchungen tierischer und menschlicher Verhaltensweisen fest, dass diese Definition sich auch auf den Menschen anwenden lässt.
Das bedeutet folgendes: Eine gute Bewegung ist jederzeit umkehrbar und wiederholbar, d.h. man kann sie an jedem Punkt ihres Ablaufs unterbrechen, umkehren, ihre Richtung ändern oder die ursprüngliche Richtung wieder aufnehmen. So definiert, impliziert Bewegungsqualität Wiederholbarkeit und ein Minimum an Energieverlust.
Sobald die Qualität von Bewegungen in physikalischen Begriffen definiert worden war, stellte sich die Frage, wie das mit der menschlichen Struktur und Funktion zusammenhängt, - wie sich z.B. eine gute „Haltung“ vom Standpunkt der Dynamik kennzeichnen lässt. Feldenkrais sprach in diesem Zusammenhang vom „Zustand der Stärke“ („potent state“) und meinte damit das Gleichgewicht von Wachheit und Aktionsbereitschaft, - einen neutralen Punkt, von dem man sich ohne vorhergehende Reorganisation in alle erdenklichen Richtungen bewegen kann.
Aus Chemie und Physik übernahm er den Begriff der Verstärkung (Amplifikation). D.h., die Körperteile, auf die man einwirken möchte, können unter Umständen weit von dem Punkt entfernt sein, wo man während einer FI Stunde arbeitet; Umwege führen oft viel schneller zum Ziel als der direkte Weg ...
Bewusstheit setzt äusserste Empfindlichkeit der propriozeptiven Reizempfänger voraus. Die mathematischen Korrelationen der unterschiedlichen Schwellenwerte des kinästhetischen Gefühlssinns werden von Feldenkrais ausführlich und mit ganz präzisen Messdaten erläutert. Er beruft sich dabei auf die Weber-Fechnerschen Gesetze. Im somatischen Zusammenhang besagen diese Gesetze im wesentlichen, dass die Empfindlichkeit für Reize in dem Masse wächst, in dem die körperliche Anstrengung abnimmt. Sie alle kennen wahrscheinlich den Zusammenhang
pfeffer_feldenkrais methode.doc
zwischen Aufmerksamkeit und Anspannung: Wenn die Spannung abnimmt, nimmt die Achtsamkeit zu.
Feldenkrais hat natürlich alle seine Entdeckungen in die Praxis umgesetzt. Daher sind Feldenkrais Stunden so angelegt, dass der Schüler die zum Lernen notwendige Infrastruktur selbst entwickeln kann, d.h. Wachsamkeit, Gehörsinn, Unterscheidungsvermögen usw. Da unser Gehirn auf Lernen programmiert ist, geht es bei den Stunden letztlich darum, diverse Störfaktoren zu beseitigen, damit die uns angeborenen Möglichkeiten verwirklicht und integriert werden können. Mit anderen Worten, sie zielen auf eine bessere Nutzung unserer latenten Fähigkeiten.
Ein anderer Gesichtspunkt ist folgender: Die Menschen, die zu Ihnen, den Somato- psycho-therapeuten, kommen - oder zu uns, die wir die Feldenkrais Methode praktizieren (denn wir sind weder Somato- noch Psycho-, noch Therapeuten, sondern Lehrer, bzw. nicht einmal das, denn wir unterrichten ja nicht im üblichen Sinne, sondern ermöglichen Lernen - „Learning not teaching“) - diese Menschen sind wahrscheinlich mit ihrer derzeitigen Kondition und Leistung unzufrieden. Kurz, sie möchten etwas ändern. Sie wollen ihre Zukunftsaussichten verbessern; sie wollen nicht länger leiden; keine Rückenschmerzen mehr haben; nicht mehr in Depressionen versinken; sie wollen abnehmen oder ihre Haltung verbessern usw. Nun ist das Angebot von dauerhafte Änderung versprechenden Methoden heutzutage schier unübersehbar, und die Zahl entsprechender Theorien ist noch grösser. Wir wissen aber nur allzu gut aus eigener Erfahrung: „Plus ça change, plus c’est la même chose!“ (Je grösser der Wandel, desto mehr bleibt alles beim Alten.)
Das sollte uns nicht weiter verwundern. Fühlen wir doch unser Wollen immer nur mit einem Teil unseres Selbst, d.h. vermittels der bewussten Intention, während wir mit dem Gesamt unseres Selbst handeln. Nun lässt sich jedoch dieses Gesamt unseres Selbst nie so recht in den Griff bekommen und sagt: „Das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich.“ Mit anderen Worten, der echte Wille, welcher wahre Durchschlagskraft besitzt, ist unbewusst, unterbewusst und autonom. So finden Veränderungen statt, bei denen wir die Rolle von Instrumenten spielen. Die Frage ist also, wie wir zu diesen anderen Teilen unseres Selbst Kontakt aufnehmen können.
Als Lernweg wählte Moshé Feldenkrais die nichtverbale, sensorische Kommunikation mit dem Unbewussten über Tastsinn und Berührung: Diese Form der Kommunikation ist unmittelbarer und daher wirksamer, denn Sinnesreize sind den in uns ablaufenden unbewussten Prozessen viel näher als unser bewusstes Verstehen. Solche Reize lassen viel eher funktionale Veränderungen zu.
Wenn wir von anderen - oder von uns selbst - irgendwelche Aenderungen verlangen, setzen wir voraus, dass sich das bewerkstelligen lässt. Was denken wir uns z.B. dabei, wenn wir zu unserem Kind sagen: „Steh doch gerade!“ ? Meinen wir, dass es das nicht kann oder nicht will? Wenn das Kind wüsste wie, würde es gewiss gerade stehen. Doch ist ihm die dazu nötige innere Organisation gar nicht zugänglich. Um der Aufforderung „Steh gerade!“ nachzukommen, müssten diese Worte für das Kind mit einer eindeutigen kinästhetischen Empfindung gekoppelt sein, die es jedoch bei seiner derzeitigen Körperhaltung einfach nicht haben kann. Das gilt für jede Art von Veränderung.
pfeffer_feldenkrais methode.doc
Die Feldenkrais Methode ermöglicht demjenigen, der etwas an sich ändern möchte, das dazu nötige Lernen, so dass er z.B. konkret erfährt, was es bedeutet, sich gerade zu halten, indem er Gelegenheit erhält, die dazu erforderliche innere Organisation selbst zu erschaffen. Es geht vor allem darum, mit Lernprozessen vertraut zu werden, die wir auf alle anderen Bereiche unseres Lebens übertragen können, ob es sich dabei um das Studium der Mathematik handelt, um das Erlernen einer Fremdsprache oder Jogging.
Kommen wir noch einmal auf den Begriff des Wandels zurück: Was muss unverändert bleiben, und was soll sich ändern? Kann man die Zusammensetzung, die Zwischenverbindungen, kurz die „Verkabelung“ des Nervensystems ummodeln? Feldenkrais geht es mit seiner Methode weder um die Veränderung als solche, noch um den ganzen damit verbundenen Komplex von Problemen. Statt dessen ermöglichen wir dem Lernenden, in einfachen Bewegungsabläufen auf spielerische Weise alternative Wege der Ausführung ein und derselben Handlung zu entdecken. Nehmen wir z.B. die Atmung. In den diesem Thema gewidmeten Stunden unterrichten wir die Schüler nicht, wie sie zu atmen haben. Wir erlauben ihnen vielmehr, die autonome Atemfunktion wiederzuentdecken. Das geschieht durch Ausprobieren verschiedener Respirationsmöglichkeiten. Man kann z.B. wie ein Yogi atmen, oder wie ein Baby, wie jemand, der deprimiert ist oder wie jemand, der zum Lachen aufgelegt ist, u.s.w. Es gibt auch verschiedene paradox anmutende Möglichkeiten zu atmen. Bei solchem Herumspielen wird sich die Atmung des Lernenden allmählich ganz spontan wieder den Forderungen des Augenblicks anpassen. Gleichzeitig werden alte Muster und Gewohnheiten neutralisiert.
Um in verschiedener Weise auf gleiche Reize antworten zu können – und das bedeutet zu lernen - müssen wir zunächst das automatische Auftreten gewohnheitsmässiger Reaktionen verhindern. Die Hemmung solcher Reaktionen, die beim Lernen genauso wichtig, wenn nicht sogar wichtiger ist als Reiz und Antrieb, lässt sich im Rahmen von Feldenkrais Stunden meistern, indem man Bewegungen nur in der Vorstellung ausführt, Differenzierungen übt, und ähnliche Mittel anwendet.
Zum Abschluss möchte ich betonen, dass der Schüler nicht immer etwas Neues lernt. Er lernt vor allem, das Wie seines Tuns zu ändern. Und das ermöglicht ihm, zwanghafte Verhaltensweisen abzulegen. Die Mehrzahl unserer Probleme geht auf einen Mangel an Flexibilität zurück, der sich aus dem Fehlen von Wahlmöglichkeiten ergibt. Die Erfahrung aber, etwas tun oder lassen oder ganz anders machen zu können, bringt das Problem, über das sich der Betreffende beklagt, oft in einer funktionalen Integration zum Verschwinden.
Kurz, diese Methode möchte dazu beitragen, dass wir zu Lehrlingen der Weisheit werden.
Übersetzt und zugesandt von Ilana Nevill Mit der Genehmigung zum Abdruck von Myriam Pfeffer
pfeffer_feldenkrais methode.doc